Gespräch mit Franco Cavalli, Präsident der Hilfsorganisation mediCuba, über die Notwendigkeit internationaler Solidarität angesichts der Coronapandemie und die Idee, für die Schweiz medizinische Hilfe aus Kuba anzufordern (Interview: Tobias Kriele, Quelle: jungewelt.de)
SPENDENAUFRUF: Wir helfen Kuba helfen!
Was macht die durch das Coronavirus ausgelöste Pandemie so gefährlich?
Das SARS-CoV-2-Virus ist problematisch, weil auch Infizierte ohne Symptome ansteckend sein können. Das erklärt die hohe Geschwindigkeit der Verbreitung der Krankheit zu Beginn, als noch sehr viele Leute ohne Schutz zusammengekommen sind. Bei uns in der italienischen Schweiz, im Tessin, hat man die Fastnachtsumzüge damals nicht verboten. Die Region um Bergamo in Norditalien ist sehr stark befallen, weil man dort, als das Virus schon herumging, ein Champions-League-Spiel mit 50.000 Leuten, eng gepackt, in einem kleinen Stadion hat stattfinden lassen. So erklärt sich die rasante Verbreitung in einer Situation, in der wir keinen Impfstoff und keine wirksame Therapie gegen das Virus haben.
Eine Frage, über die die ganze Welt diskutiert, ist, wieso Deutschland so wenige Tote hat. Dort wurde vermutlich mehr getestet als in anderen Ländern. Dennoch ist die niedrige Sterblichkeitsrate sehr auffällig. Vielleicht sind die Deutschen so diszipliniert, aber das ist vermutlich nicht die einzige Erklärung. Man sagt, dass das deutsche Gesundheitssystem sich im Vergleich zu Frankreich und Italien als widerstandsfähiger gezeigt und mehr Plätze auf den Intensivstationen bereitgehalten hat. Wir haben allerdings in der Schweiz ebenfalls genug Intensivplätze, und dennoch haben wir eine relativ hohe Sterblichkeit. Wir haben im Tessin bis heute (am 14.4.2020, d. Red.) etwa 250 Tote zu beklagen. Wenn ich das auf die Bevölkerung hochrechne, würden dem in Deutschland fast 60.000 Verstorbene entsprechen. Die Gründe dafür sind noch zu klären.
Wie ist denn aktuell die Situation im Tessin, wo Sie leben?
Wir haben die strengsten Regeln innerhalb der Schweiz, da wir die meisten Fälle haben. Es gibt keine absolute Ausgangssperre, denn es bleibt erlaubt, jeden Tag einen kleinen Spaziergang zu machen oder einkaufen zu gehen. Obwohl es aus rechtlichen Gründen nicht ganz verboten werden kann, wird es unterbunden, dass ältere Menschen über 65 Jahre einkaufen gehen. Es ist fast eine Ausgangssperre, und alles ist zu, Schulen usw. Auch alle Industrien, alle Bautätigkeiten wurden gestoppt, im Gegensatz zum Rest der Schweiz, wo die Bauarbeiten weitergehen. Wir haben etwa 70.000 bis 75.000 italienische Grenzgänger, die jeden Tag ins Tessin kommen. Viele von ihnen stammen aus der Lombardei, also der Region, die der erste Hotspot in Europa war. Wahrscheinlich ist das der Grund, weshalb wir soviel mehr Fälle haben als die restliche Schweiz.
Die Lage in der Lombardei war und ist zum Teil immer noch sehr dramatisch. Es gab Momente, in denen das Gesundheitssystem unfähig war, alle schweren Fälle zu behandeln. In Italien sind auch relativ viele Ärzte und Krankenschwestern an Covid-19 gestorben.
Bei uns in der Schweiz weckt das bei einigen Menschen Schuldgefühle. Das Schweizer Gesundheitssystem wäre zusammengebrochen, wenn Frankreich, Deutschland und Italien ihre Ärzte und Krankenpfleger zurückgerufen hätten. Frankreich und Italien stehen unter Notrecht, und damit hätten beide Regierungen die Möglichkeit gehabt, ihre Krankenpfleger und Ärzte zurückzubeordern. In der Schweiz hatte man eine panische Angst davor. Bei uns im Tessin sind im Schnitt etwa 40 Prozent der Pflegekräfte Grenzgänger aus Italien. In der französischen Schweiz sind es noch mehr, über 50 Prozent. Zu Beginn der Krise wurden in der Schweiz 6.000 Ärzte und 20.000 Pfleger gesucht. Ohne die ausländischen Fachkräfte wäre unser Gesundheitssystem zusammengebrochen.
Wir »produzieren« weniger als die Hälfte der Ärzte, die wir in der Schweiz brauchen, und »importieren« den Rest. Wenn Deutschland, Frankreich und Italien ihre Ärzte ausbilden und wir sie dann zu uns rufen, sparen wir natürlich sehr viel Geld. Ähnlich ist es bei den Krankenschwestern.
Welche Rolle spielen die Interessen der großen Pharmakonzerne in der Entwicklung von Impfstoffen gegen Covid-19?
Vor allem die relativ kleinen biopharmazeutischen Industrien und Forschungsinstitutionen arbeiten gerade intensiv an einem Impfstoff. Die großen Pharmamultis waren auch im Falle von Malaria und AIDS nie sehr daran interessiert, Impfstoffe zu entwickeln, da die Profitmarge zu gering ist. »Big Pharma« ist viel stärker daran interessiert, Medikamente zu entwickeln, an denen sich gut verdienen lässt, zum Beispiel gegen Krebs. Gegen die allgemeinen Pandemien sind die großen Konzerne deshalb nie sehr aktiv gewesen.
Derzeit befinden sich ein paar antivirale Medikamente in der Prüfungsphase, aber momentan erscheint keines als wirklich aussichtsreich. Ein spezieller Fall ist möglicherweise das in Kuba produzierte Interferon Alpha 2B, welches auch in China zum Einsatz kam. Nach dem, was ich von chinesischen Kolleginnen und Kollegen aus Wuhan weiß, ist dieses Medikament als Aerosol bei Patienten mit Lungenentzündungen mindestens zur Linderung der Symptome wirksam. Es wird deshalb aktuell auch in einer großen europäischen Vergleichsstudie an 2.000 Patienten getestet.
Wie lässt es sich erklären, dass die Epidemie in China dermaßen abweichend verlaufen ist?
Man muss sagen, dass man das gleiche, wenn auch mit anderen Mitteln, in Südkorea erreicht hat. In bezug auf China kann man die erste Phase etwas kritisch sehen, in der vor allem in Wuhan Zeit verloren wurde. Beijing wurde erst mit zwei Wochen Verzug benachrichtigt und hat dann sofort reagiert. Die dortige sehr kompetente Zentralstelle für die Bekämpfung von Infektionskrankheiten hat sehr schnell und hart eingegriffen. Hätte China nicht mit einer absoluten Ausgangssperre und einer umfassenden Blockierung jeder menschlichen Tätigkeit agiert, hätte es dort sicher sehr viele mehr Sterbefälle gegeben. So hatten sie weniger Tote als Italien oder Spanien zu beklagen, von den USA ganz zu schweigen. Das ist der beste Beweis, dass in einer solchen Situation die Trennung der Leute das beste Mittel ist, damit die Krankheit sich nicht verbreitet. Über einen weiteren Unterschied wird jetzt viel diskutiert. Von Anfang galt in China, dass niemand das Haus verlässt, ohne eine Schutzmaske zu tragen. Diese Strategie beruht auf Erfahrungen, die in der Volksrepublik in den letzten 30 Jahren mit den verschiedensten Epidemien gemacht wurden, und ist auch wissenschaftlich reflektiert. Bei uns wird über den Nutzen der Schutzmasken immer noch diskutiert.
Dabei haben die westlichen Länder und auch die WHO nur deshalb nicht den Mut gehabt, das Tragen von Schutzmasken für alle zu fordern, weil es nicht genügend Masken gab. Das war der wahre Grund.
Was erwarten Sie für den weiteren Verlauf der Pandemie?
Solange es keinen Impfstoff und keine wirksame Therapie gibt, bleiben nur das Abstandhalten und die Trennung der Leute. Sobald man die Maßnahmen lockert, besteht die Gefahr, dass die Epidemie wieder zunimmt. Es scheint so zu sein, wir wissen es noch nicht mit Sicherheit, dass das Virus bei einer Temperatur von über 20 Grad und einer hohen Luftfeuchte nicht lange überlebt. Ich glaube, mit den Maßnahmen, die man jetzt getroffen hat, und der Hoffnung, dass es bald wieder recht heiß wird, sollten wir in den nächsten drei bis fünf Wochen die Lage vielleicht so stabilisieren können, wie es in China erreicht wurde. Aber im Herbst könnte eine erneute Welle auf uns zukommen, wenn die Herdenimmunität dann noch nicht besteht und es bis dahin noch keinen Impfstoff gibt.
Wenn man auf die heißen Länder wie Indonesien oder Südindien, aber auch Zentralamerika schaut, dann gibt es dort bis jetzt weniger Fälle. Und dies, obwohl die Lebensbedingungen es den Menschen dort fast unmöglich machen, Abstand zu halten, etwa wenn die Leute in überfüllten Bussen fahren müssen. Der Grund dafür könnte sein, dass das Virus unter den dortigen Umweltbedingungen schlechter überlebt. Es scheint so zu sein, dass die optimale Temperatur für das Virus irgendwo zwischen drei und 20 Grad liegt.
In Kuba gibt es offensichtlich ebenfalls einen sehr systematischen Umgang mit Corona. Ist die dortige Strategie mit der chinesischen zu vergleichen?
Kuba geht einen Mittelweg, der nicht vergleichbar ist mit dem von China. In Kuba wird derzeit viel getan, um die Bevölkerung dazu zu erziehen, die Abstandsmaßnahmen einzuhalten. Man versucht, soweit es möglich ist, Schutzmasken zu tragen. Andererseits wurden die Arbeitstätigkeiten nicht eingefroren, auch der Transport zunächst nicht. In Kuba gibt es zusätzliche Schwierigkeiten – etwa, dass die Leute vor den Läden Schlange stehen müssen. Man muss dabei bedenken, dass sich die allgemeinen Lebensbedingungen in Kuba in den letzten Monaten verschlechtert haben, weil die US-Blockade deutlich strikter geworden ist. US-Präsident Donald Trump hatte schon vor dem Ausbruch der Pandemie versucht, Kuba verhungern zu lassen. Diese Verschlechterung der Lebensbedingungen könnte dem Virus im Prinzip seine Verbreitung leichter machen. Das scheint im Moment allerdings noch nicht der Fall zu sein. Kuba versucht es, ohne die eiserne Faust zu benutzen, wie es die Chinesen gemacht haben, vor allem mit den bewährten Waffen. Die Allgemeinärzte, die einen sehr engen Kontakt mit der Bevölkerung haben, sprechen mit den Leuten und machen ihnen klar, was sie tun sollen, damit sie nicht vom Virus befallen werden.
Sie sind Präsident der Organisation Medicuba Europa, die zur Zeit eine Kampagne zur Stärkung und Weiterentwicklung der molekularen mikrobiologischen Diagnostik in Kuba durchführt. Welche Bedeutung hat diese Kampagne für das kubanische Gesundheitssystem und insbesondere für den Kampf gegen Corona?
Unser Projektpartner ist das Instituto Pedro Kourí, IPK, und somit die Einrichtung in Kuba, welche die Ausbreitung der Infektionskrankheiten kontrolliert und Ärzte ausbildet, insbesondere die Ärzte, welche bei den kubanischen Missionen weltweit eingesetzt werden. Bis zum Beginn unseres Projektes verfügte das IPK nur über ein Labor in Havanna. Wenn also jemand in Santiago de Cuba den Verdacht auf Denguefieber oder Typhus hatte, musste man, um den Erreger zu ermitteln, eine Probe unter den bekannten Transportschwierigkeiten nach Havanna schicken. Dort wurde im Labor beobachtet, ob dieser Erreger bei Zugabe von Ingredienzen wächst. Im Fall von Tuberkulose musste man fast eine Woche auf das Ergebnis warten. Das ist eine gute, aber veraltete Methode. Heutzutage verwendet man molekularbiologische Methoden, mit denen sich innerhalb von Stunden die genetische Struktur dieser Erreger nachweisen lässt. Für Kuba war diese Technologie allerdings nicht zugänglich.
Wir haben als Medicuba in den letzten Jahren drei Zentren mit einem Budget von fast 1,5 Millionen Euro aufgebaut, in denen alle Viren mit molekularbiologischen Mitteln nachgewiesen werden können. In Santiago und Villa Clara sind die Zentren fertig ausgebaut, in Havanna ist es noch nicht ganz fertig, weil dort durch das IPK die Notwendigkeit etwas weniger groß war. Wir haben die Grundstruktur, die Reagenzien und die Ausbildung der Spezialisten mit diesem Projekt bezahlen können, so dass Kuba heute in der Lage ist, jeden infektiösen Erreger spätestens innerhalb eines Tages nachzuweisen.
Dazu benötigen die Kubaner aber einige Reagenzien, die sie im Moment wegen der Blockade nicht frei kaufen können. Sie können sie ausschließlich gegen Bezahlung bei der WHO beziehen. Deswegen haben wir eine europaweite Notkampagne lanciert, um noch einmal für 200.000 Euro Reagenzien kaufen zu können, damit Kuba unter anderem Coronatests im großen Stil durchführen kann.
Welche Wirkung haben die internationalen Einsätze der in Italien aktiven kubanischen Ärztebrigade »Henry Reeve«?
Die kubanischen Ärzte sind vom genannten Instituto Pedro Kourí gut ausgebildet worden. Genau aus diesem Grund hat Donald Trump vor etwa einem Jahr mittels einer präsidialen Verfügung jedem US-Bürger die Zusammenarbeit mit diesem Institut verboten. Er weiß natürlich, dass das IPK für die Strategie Kubas, Ärzte und medizinisches Personal ins Ausland zu schicken, eine zentrale Rolle spielt.
Die kubanischen Ärzte haben einen guten Ruf weltweit, und die Ankunft der Brigade hat in Europa sehr viel Bewunderung hervorgerufen.
Am Anfang der Epidemie bestand im Tessin die Befürchtung, dass unser Gesundheitssystem Mühe haben würde, mit dem Ansturm an Patienten fertig zu werden. Vor allem hatte man, wie gesagt, Angst, die Italiener würden ihre Arbeitskräfte zurückziehen. In unserer Tessiner Regierung hat es sogar Leute gegeben, die der Schweizer Regierung vorgeschlagen haben, Kuba um die Entsendung von Ärzten zu bitten.
Was motiviert Sie, sich ausgerechnet für Kuba einzusetzen?
Ich würde sagen, es gibt mehrere Gründe, aber zwei Hauptgründe.
Diese Pandemie hat meiner Meinung nach schonungslos die Schwächen des internationalen kapitalistischen Systems aufgezeigt. Vor fünf Monaten hätte noch jeder gesagt, dass der Kapitalismus unerschütterlich ist. Und dann kam ein kleines Virus in China auf, und das ganze System ist zusammengebrochen. Allein in der Schweiz spricht man davon, dass unsere Produktion in den nächsten Monaten um 25 bis 30 Prozent abnehmen wird.
In Italien und später in Frankreich und Spanien hat sich gezeigt, dass man durch diese wahnsinnigen Sparmaßnahmen und die Tatsache, dass man den Staat so klein wie möglich halten wollte, die öffentlichen Spitäler kaputtgemacht hat. In der Hauptstadt des Imperialismus, in New York, sterben Leute auf den Straßen, weil nicht genug Platz in den Spitälern ist. Dabei werden wir der WHO zufolge in Zukunft mit erneuten Pandemien rechnen müssen. Wir brauchen aus verschiedenen Gründen für die Zukunft ein anderes Gesellschaftssystem. Trotz aller Schwierigkeiten, trotz einer fast 60jährigen Blockade, die jedes andere Land kaputtgemacht hätte, bleibt Kuba seinem Versuch treu, eine andere Gesellschaft aufzubauen. Trotz Schäden durch die Blockade in Milliardenhöhe haben die Kubaner immer noch die längste Lebenserwartung in Lateinamerika, die besten Schulen, die besten Spitäler.
Aber es gibt für mich noch einen zweiten, vielleicht unmittelbar wichtigeren Grund, Kuba zu unterstützen. Ich bin in verschiedenen Hilfsprojekten aktiv, vor allem in Zentralamerika, Lateinamerika, aber auch in Eurasien. Mich hat immer beeindruckt, welch unglaubliche Solidarität Kuba mit seinen medizinischen Missionen in der ganzen Welt entwickelt. Wenn man in einem Elendsquartier einen Arzt trifft, ist er wahrscheinlich Kubaner oder doch ein Mediziner, der in Kuba ausgebildet wurde. Wenn man am Ende des Urwalds auf einen Arzt stößt, ist das sicher ein kubanischer Arzt. Das ist für mich ein lebendiger Beweis menschlicher Solidarität. Ich glaube, das ist etwas, das wir jetzt gelernt haben: Auch wenn wir im Moment Abstand halten müssen, können wir nicht ohne die Solidarität leben. Jemand muss für die älteren Leute, die nicht außer Haus gehen dürfen, einkaufen. Der Mensch ist ein soziales Wesen, er ist auf Gesellschaft und auf Solidarität angewiesen, wenn er in dieser Welt überleben will. Und Kuba zeigt uns, wie man das verwirklichen kann.
Das Interview führte Tobias Kriele